Hugo
Hugo Groth (19.6.1872-17.4.1972) kgl. Landmesser bis zum Vermessungsrat; Heimatforscher
Hauschronik (1943)
Hugo Groths Kinder:
Luise Groth (1901-1988)
Margarete Neeße, geb. Groth (1902-1996)
Heinrich Groth (1904-1995) Lebenserinnerungen, Typoskript 248 S., 1984
Helene Böhme, geb. Groth (1906-1974) Lebenserinnerungen handschriftlich 106 S. u. Typoskript 27 Computerseiten, 1969
Gertrud Ackermann geb. Groth (1908-2001)
Lebensbild
Unser Vater.
Unser Vater wird in diesem Jahre (1962) neunzig Jahre alt. Da ist es wohl angezeigt, daß wir uns etwas mehr als gewöhnlich mit seinem Leben beschäftigen, denn 90 Jahre alt zu sein und noch so viel zu leisten, daß kommt oft nicht vor. Es hat schon Sinn, zu fragen: "Wie erlebten wir unseren Vater? Welche Bedeutung hat unser Vater für uns?"
Als wir noch in Mühlhausen in der Karlstraße wohnten, war ich 2-4 Jahre alt.
Wir zogen ja im Mai 1910 auf den Lindenbühl. In der Karlstraße hatte ich noch keinen Begriff von meinem Vater. Ich sah die Mutter am Fenster eine Handarbeit in den Händen halten, ich erlebte größere Geschwister, die mir den schwarzen Mann glaubhaft machen wollten mit schwarzem Waschwasser und Ofentürengeklapper, ich weiß, daß ich weinte, und meine Mutter den Geschwistern das Angstmachen verbot. Aber den Vater erlebte ich nicht. Ich weiß, daß ich mit einem Kindermädchen, das eine sehr steifgestärkte, weiße Schürze umhatte, neben einem hochrädrigen Kinderwagen herging, an dem die Gummireifen oft abfielen, und an dem blaue Wollvorhänge das darinliegende Schwesterchen vor der Sonne schützen sollte. Ich weiß, daß wir zu Seemanns gingen, weil da auch kleine Kinder waren, aber dann erschöpft sich die Erinnerung mit dem Hausgärtchen, in dem wir mit Sandförmchen in einer Laube spielten und in dem Wäsche aufgehängt wurde. Dann kam der Tag, an dem ich über die Straße zu Tante Korth gebracht wurde und dort Mittag aß, abtrocknen helfen durfte und eine ganz kunterbunte Flickendecke bewundern durfte.
Dann holte mich das Dienstmädchen ab und brachte mich nach einem mir endlos dünkenden Weg in das kleine Haus Lindenbühl Nr. 21, in dem wir alle wohl unsere schönste Zeit verbracht haben. Das erste, was ich begriff, war der Garten. Mehr konnte ich nicht fassen am ersten Tage, ich schlief ein. Am nächsten Tage führte und trug mich meine große Schwester Grete durch das ganze Haus. Das Aufregenste war der Boden, denn da war eine steile Treppe, die ich nicht allein hinunter gehen durfte und konnte. Grete nahm mich Huckepack und trug mich hinunter.
In diesem Hause nun erlebte ich auch unseren Vater. Er lag am Sonntag im Bett, wenn wir aufwachten. Dann sprangen wir zu ihm auf die Steppdecke und setzten uns auf seine angezogenen Knie. Da saßen wir und schaukelten sacht hin und her, bis plötzlich die schöne Bank zusammenbrach und wir ins Bett rollten. "Nocheinmal, Vater!" Jauchzten wir, denn wir waren wenigsten zu zweit, Gertrud und ich, wenn nicht Heinrich auch mit dabei war. Wir lagen wohl auch, nachdem wir uns müde getobt hatten, still neben dem Vater und bettelten: " Erzähle uns was!" Und immer wußte der Vater etwas zu erzählen, aus der Zeit, wie er noch klein war oder von Riesen, Zwergen, von Sonne, Regen Schnee und Wetter. Und wenn der Vater dann aufstand und sich wusch, schnaubte er gewaltig beim Waschen und beim Trocknen, ließ er die Sonne auf seine Brust scheinen und sagte dabei wohl: "Scheine, Sonne, scheine, wärm mir das Gebeine!"
Oder er goß aus der Wasserkaraffe sich Wasser in das Zahnputzglas. Dazu sprach er beschwörend."Baddelbim bam, bimbam buddelbiddelba, baddel bimbam bim bam buddel biddelba, baddel bim bam bim bam buddelbiddelba biddel baddel biddel baddel bex!" und damit war die Karaffe leer. So lernten wir auf die Melodie der Geräusche achten, und ich begriff in der Schule sehr schnell, was Lautmalerei heißt. Ja, der Sonntagsvater, das war ein lustiger Mann! Wir durften in seine Wäscheschublade schauen, in der immer eine Flasche Kölnisch Wasser stand. Vater entkorkte die Flasche und ließ uns riechen, ja, er tupfte uns von dem duftenden Naß etwas auf die sonntägliche weiße Schürze, und wir gingen stolz schnuppernd sachtchen die Treppe hinunter zur Mutter:"Mutter, riech mal!"
O, ja, der Sonntagsvater hatte ein duftendes Taschentuch, er zog ein weißes, gestärktes Hemd an, nachdem er sorgfältig geprüft hatte, welches für den heutigen Tag das richtige sei. Wir standen wohl daneben und rieten ihm. Da gab es welche mit gefältelter Hemdenbrust, einige hatten kleine aufgestickte Blümchen, andere waren im Stoff gemustert. Mit großer Sorgfalt wurden auch die Manschetten ausgesucht. Einige waren immer etwas ausgefranst. Manchmal durften wir helfen, die Manschettenknöpfe, die mit einem Kettchen miteinander verbunden waren, mühsam einknöpfen. Großen Eindruck aber machte mir das Kragenknöpfchen! Dieser herrliche Mechanismus zum Umklappen entzückte immer wieder. Ich konnte nicht müde werden, die Teile so umzuklappen, daß ein Stühlchen gebildet wurde. Darauf saß dann in meiner Phantasie ein winzig kleines Püppchen oder Geistchen. Der Sonntagsvater aber hatte auch eine goldene Uhr mit einem Deckel, der aufspringen konnte. Und wir durften zusehen, wie die Uhr aufgezogen wurde, wie der Zeiger geschwind um die Mitte kreiste, wir sahen, wie der kleine Zeiger so viel langsamer sich drehte, und lernten die römischen Ziffern kennen. Und wir standen mit großen Augen vor dem Vater, wenn er seine Weste anzog. Dieses sonderbare Kleidungsstück, das hinten so ganz anders aussah wie vorne! Damals lernten wir auch den Begriff der Straßenseite eines Hauses und der Hinterfront kennen. Westenhäuser! Vorne hui, hinten pfui! Aber die Westentasche war ein unergründlicher Quell von Überraschungen. Da gab es ein Bürstchen, das auseinander geklappt werden konnte, dann war es doppelt so dick, eines hatte ein Kämmchen und ein Spiegelchen an sich. Es gab einen silbernen, ganz feinen Schraubenzieher und winzige Bleistiftspitzchen. Fahrscheine von Straßenbahnen, Wacholderbeeren, Englisches Heftpflaster und Büroklammern. Auch winzige Radiergummi ließen sich aufstöbern. Na, und die Schlipse von Vater! Da war ein orangelber von Tante Hedwig! Sie liebte ja das Farbenfreudige so! Ein Selbstbinder! Mit elegantem Schwung und allerlei Gesichter-Schneiden, bei dem wir immer etwas zu lachen hatten, band sich der Sonntagsvater dieses köstliche Geschenk um. In der Woche genügte auch ein fertig gebundener Schlips. Aber da waren auch die roten und grünen selbstgehäkelten Schlipse von Mutter, die nur die seltsame Neigung hatten, immer länger und dünner zu werden, so daß Vater oft im Schlafzimmer hin und her ging und solch einen Schlips in die Breite zog und uns dabei allerlei Lautscherze vormachte. In seiner Schublade, in weißem Seidenpapier lag auch ein wundervoller, breiter, weißer Kragenschoner, den hatte die Großmutter selber gestrickt. Er glänzte seidig und wurde nur an Sonn- und Feiertagen benutzt. Für gewöhnlich genügten die von Mutter gehäkelten. Sie waren allerdings nicht so breit, dicker und auch nicht so lang, dafür hatten sie Löcher, durch die man hindurchschauen konnte und auch die kleinen Fingerkuppen hineinstecken konnte, sodaß sie wie kleine Gesichtchen aus den Fenstern herausguckten.
Ja, eine ganze Märchenwelt war in Vaters Schublade versteckt! Ganz selten machte Vater auch die grüne Spanbüchse auf, die Tante Hedwig bemalt hatte mit bunten Blümchen.
Da lagen die weißen Glaceehandschuhe drin, Zeuge einer längs vergangener Zeit, Hochzeit, Bälle, Visiten das war uns fremd. Aber die Wollstrümpfe, bei denen manchmal noch die kleinen Goldschäfchen lagen, die die Güte der Wolle bewiesen, die kannten wir genau, denn oft hieß es: "Leni, spritz doch mal nach oben und hol dem Vater ein paar neue Strümpfe!"
Ein Sonntagmorgen war recht lang. Vater wollte dann manchmal Mutter eine Freude machen und uns kämmen. Es dauerte oft zu lange, bis wir an die Reihe kamen, denn erst wurden Luise und Grete gekämmt. Dann machte sich wohl Vater daran und kämmte sein Lottchen. "Aber Vater, ich heiße doch gar nicht Lottchen!" "So, Du heißt nicht Lottchen? Wie heißt Du denn?" "Ich heiße doch Leni!" "So, na dann komm mal her, mein Lottchen!" So hatte der Vater seinen Spaß mit uns. Wir wurden gekämmt, alle Haare hochgekämmt, ein Band drumherumgeschlungen. Fertig! "Aber Vater, das geht doch nicht so!" " Na, da machen wir es anders!" Mit Schwung wird das ganze Haar zusammengedreht und zu einer Schnecke oben auf dem Kopf festzusammengesteckt. "So ist es schön!" "Aber Vater, ich bin doch keine alte Frau!" Wieder aufgemacht. Mutter ruft schon zum Kaffeetrinken! Da wird schnell das Haar gescheitelt, glattgebürstet, ein weißes Seidenband darumgeschlungen, und so geht es hinunter in die Lindenlaube, wo schon der Malzkaffee unter dem Kaffeewärmer wartet, Honig und Butter zu frischen Brötchen gegessen werden und der Buchfink auf dem frischgeharkten Platz vor der Rosenlaube sein begehrliches Pink pink ruft.
Ja, was hat der Vater aus der verfallenen Lindenlaube gemacht! Das Dach wurde durch neue Pfosten gestützt, die sauber gestrichen wurden. Leichtere Latten, die in Hüfthöhe durch Querlatten abgestützt waren, bildeten die lichten Laubenwände, an denen, wenn ich nicht sehr irre, derbe Leinenwände festgemacht werden konnten, die vor Regen schützten und im Sommer die Mücken fernhielten, wenn die Petroleumlampe angezündet wurde, die in einer Ampel von der Mitte des trichterförmigen Daches herabhing. Ich habe es nur ganz selten erlebt, daß die Lampe angezündet wurde, denn ich mußte zu der Zeit immer schon im Bett liegen. Aber ich entsinne mich noch, daß ich voller Sehnsucht hinabschaute in den Garten, aus dem ich noch jetzt die Lampe schimmern sehe und Heinrichs laute Stimme zu hören meine, wie er das Tischgebet zum Abendessen spricht: "Aller Augen warten auf Dich, Herr!" Nicht nur die Laube hatte Vater ganzgemacht, er hatte auch eine Bank gebastelt. Allerdings hatte sie einige Tücken: Wenn man zu dritt oder gar zu viert auf der Bank saß und sich plötzlich alle bis auf den, der an der äußersten Kante saß, erhoben, kippte man in die Tiefe. Das war natürlich sehr schön zum Spielen, Wippen und zum Ärgern und Anführen Ahnungsloser. Man konnte auch leicht mit der ganzen Bank nach hinten umkippen. Das war manchmal nicht ganz ungefährlich. Vater baute deswegen später eine neue Bank. Die wurde auch weiß angestrichen und hatte auch gleich ein Fußbänkchen angearbeitet bekommen und eine Lehne. Die war schwerer zu tragen, da mußten immer gleich zwei anfassen. Sie stand zuerst in der neugebauten Weinlaube, gleich unter dem Wohnzimmerfenster. Ach, war das eine Mühe gewesen, die Weinranken zu ordnen und erst fernzuhalten, bis das lichte Laubendach fertig war! Und die Hinterwand wurde mit schräggestellten Latten gebildet. Da merkte Vater zu spät, daß er die Richtung der Latten nicht so eingehalten hatte, wie er es vorgehabt hatte. Ich hörte damals zum ersten Male das Wort: "Na, das ist nur ein Schönheitsfehler!" Ich habe lange Zeit gebraucht, bis ich begriffen habe, was damit gemeint war. Wir Kinder erlebten dieses langsame Werden und Aufbauen täglich mit, denn wir mußten dem Vater die Nägel zureichen, das Beil halten, wenn ein Nagel umgeschlagen werden sollten, wir mußten beim Sägen das Holz halten, auch wohl mal die Säge mitziehen, wir mußten das Lot halten, Latten festhalten und Schrauben und Nägel aus Kästen und Schachteln aussuchen und ordnen. Nicht immer war uns das eine reine Freude, oft genug gab es ein Donnerwetternocheinmal, wenn wir abrutschten, schief hielten, falsche Nägel reichten oder wackelten. Gar nicht gerne sahen wir es und wir fanden dabei die volle Unterstützung der Mutter, wenn wir am hellen Sonnentag in der Handwerkskammer nach alten Nägeln suchen mußten. Der Staub reizte mich immer zum Husten. Noch heute rieche ich den seltsamen Geruch von Eisen und Staub und abgeschlossener Luft, der mich umgab, wenn ich in einem alten Zigarrenkistchen nach Blaustiftchen suchte und die krummen dabei aussondern mußte.
Wie froh war ich dann, wenn Mutter mir den Auftrag gab, eine Schüssel mit Erbsenschalen auf den Komposthaufen zu bringen! Dann ging ich singend durch den Garten, streifte wohl mit dem Fuße die Buchsbaumeinfassung der Beete, die links die mächtige Eibe umrahmten und links die roten Leberblümchen verbargen. Der kräftige, würzige Geruch der sonnenbeschienenen, glänzenden Buchsbaumblättchen tat mir wohl, und ich träumte mich in die Mittagsstille- und Hitze hinein. Kühl und modrig wehte es mir beim Überschreiten der Steinplatten, die über den Bach führten, entgegen. Durch das Höfchen mich mein Weg auf den heißen Trockenplatz, wo vor dem Waschhäuschen der alte Schleifstein stand, auf dessen Gestell wir gern saßen, um in die mächtigen Tanne hinaufzuschauen, die auch bei Windstille immer irgendwie ihren Wipfel regte. Da stand das grüne Faß, das so sonderbare, zuckende, kaum sichtbare Tiere auf dem immer irgendwie fettgen und staubigen Wasser zeigte. Es war immer gewagt, da hineinzuschauen. Wie leicht konnte das Faß umkippen, wenn man sich am Rand festhielt! Außerdem stank es immer ein bißchen. Nein, da waren die Steinplatten doch schöner, die den halben Weg zum Komposthaufen bedeckten. Nicht immer zwar rupften wir hier gerne Gras und Unkraut, aber machte es uns Freude, die Platten schön sauber zu halten. Manchmal habe ich sogar mit meinem Taschentuche nachgeholfen! An den Wegrändern standen hinter den Buchbaumeinfassungen unter den Stachelbeeren- die Vater in jedem Jahre gewissenhaft schnitt, wobei ich das Wort Schößlinge lernte- im Frühjahr die Schneeglöckchen und auf der rechten Seite, auf den Rabatten die märchenhaften hellblauen Schwertlilien mit ihren goldgelben Staubblättern und den honigbetauten Stempeln. Wie oft habe ich da den Hummeln zugeschaut und Märchenträume von Elfen und Blumenrittern geträumt! Weiter hinten gab es dann die Vergißmeinichtchen, von denen man so oft Sträuße für die lieben Bekannten pflückte, die immer wieder mit ihren Blumenaugen mich fragend anschauten und von unsichtbarem Leben Kunde gaben. Hinter Himbeeren und Stachelbeeren endlich, vom Ahorn überschattet, der in Fräulein Rindfleischs Garten nebenan sich hoch und weit verzweigt, wölbte sich der Komposthaufen, auf dem uns regelmäßig Luise einholte, wenn wir vor dem Abtrocknen davongelaufen waren. Hier schüttete ich meine Erbsenschalen aus und schaute in das Dämmer des Nachbargartens hinein. Da standen Giersch und Wolfsmilch in satter Fülle und Kraft. Scheu sah ich an dem alten Gemäuer empor, das einige kleine vergitterte Fenster aufwies, aus denen manchmal wüstes Schimpfen herausklang. Dort wohnten arme, unordentliche Leute, mit denen wir nichts zu tun haben mochten. Die Kinder sah ich manchmal auf der Steintreppe vor ihrem Haus mit Schiefertafel oder Puppenkram. Sie gingen in die Martinischule und waren für uns nur Bilder von Laufnasen, ungekämmten Haaren und unordentlicher Kleidung, wenn wir die Brunnenstraße entlang zu Wilmers gingen und an dem alten Haus vorbeikamen. Über den Komposthaufen reckten sich auch die Zweige eines Holunderbusches, der in dem Garten des Hauses stand, das zur Brunnenstraße gehörte, aber an unseren Garten angrenzte. Ein blauer Zaun trennte die beiden Grundstücke, die alle beide Frau Fröbe gehörten.
Ganz selten und nur in der allerersten Zeit wurde die verbindende Gartentüre geöffnet. Da war die böse Geschichte mit dem Kitt, den Heinrich mittels einer selbstgemachten Leiter aus dem Loche geholt hatte, das die Kanalrohre zugänglich machte. Ich weiß noch, wie Edith Greim, die Schwester meiner Klassenfreundin Thea, einen Säugling auf dem Arm tragend, der über den Zaun schauende Frau Fröbe auf ihre Frage, was die Jungens denn da machten, sagte: "Sie holen sich Kitt von den Kanalrohren." Das gab den Entzug der Leiter und viel Kummer und Not. Vor allem gab es Tränen und wildes Aufbegehren, als Heinrich sich bei Frau Fröbe entschuldigen sollte und versprechen sollte, es niemals wieder tun zu wollen.
Das Haus hatte Balkone, der Traum unserer schlaflosen Nächte! Auf einem saß der Opa meiner Freundin und hustete, bis er starb. Eine Familie Groh kaufte dann später das Haus, wir tobten noch einmal in allen Kellern herum, sprangen durch die Fenster hinein und hinaus, bis uns die wilde Jagd verboten wurde. Es kann sein ,daß durch die Kittgeschichte die Gartentüre für immer verschlossen wurde und auch keine Nachbarschaft mehr gepflegt wurde. Ich jedenfalls liebte es, von dieser Gartentüre aus in wildem Laufe auf den Trockenplatz zu laufen und auszuprobieren, mit wieviel Atemzüge ich auskam.
Hier spielten wir Weitsprung und Treiben, wobei wir aufpassen mußten, daß der Ball nicht über den Zaun flog. Oft versteckte er sich aber in dem weißgrünen breitblättrigen Gras, das an dem äußersten Wäschepfahl wuchs, gleich neben dem Türchen, das in Frau Fröbes Garten führte. Unser Wäscheplatz! Vater hatte ein Krokettspiel gekauft, und er spielte gerne mit uns Krokett. Es war schon eine Kunst, die Tore richtig und in der notwendigen Entfernung aufzustellen. Bei trockenem Wetter war es nicht leicht, in den Boden hineinzukommen. Aber wenn die "Glocke" richtig stand, dann konnte es losgehen! Oh, der Vater konnte sichere und weite Schläge tun! Da wurde kroketiert und berechnet, mit Parteien gespielt und um Zentimeterabstand gerechtet! Zum Schluß gab es für den Sieger ein Bonbon aus der großen Glasbüchse, die Mutter in Verwahrung hatte. Ja, das war alles im Frieden! Auch noch im Frieden war einmal die Mutter krank , und Trudchen und ich standen im Garten und fühlten nach, ob die Pflaumen, die aus Fräulein Rind-fleischs Garten in unseren überhingen, schon reif wären. Wir hatten wohl eine oder zwei abgepflückt, da kam der Vater, um uns Aufwidersehen zu sagen, weil er ins Büro wollte. Er sah uns mit den Pflaumen in den Händen und führte uns tiefbetrübt an das Bett unserer kranken Mutter. " Und da dachte ich nun, jetzt willst du deinen lieben Kindern Aufwiedersehen sagen, und da finde ich sie, wie sie stehlen! Und das wo ihre liebe Mutter krank ist! Solchen Kummer macht ihr uns, da kann ich ja gar nicht mit ruhigem Herzen fortgehen, wenn ich immer denken muß, meine Kinder stehlen, wenn ich es nicht sehe!" Wie weinten wir, wie schämten wir uns! Wir waren gefeit für alle Zeiten. Ja, so war der Vater. Der treue, ehrliche, unbestechliche Beamte, bei dem auch die kleinste Kleinigkeit stimmen mußte.
Welche Mühe hat er sich gegeben, uns Französisch "spielend" beizubringen! Er hatte ein "Büchlein" gekauft, das lauter Bilder zeigte, bei denen jeder Gegenstand eine Nummer hatte. Unter den Bildern stand die Nummer wieder und dahinter der Name des Bildes auf Französisch. Es gab zwei solcher Bücher. Wenn Vater nach seinem Mittagsschläfchen auf dem Sofa, zu dem wir ihm manchmal die Haare kämmen durften- so ganz zart- und die Schlummerrolle zurecht legen durften, seinen Kaffee Hag und sein Butterbrötchen bekam, bei schönem Wetter in der Linden-Laube, dann mußten wir zu ihm kommen und er sagte uns in unermüdlicher Geduld vor: "Le Buisson" das Gebüsch, " n e i n, du mußt nicht sagen buisson, das heißt büis, sag mal bü....." Wenn wir nie gerne abtrockneten in der dunklen Küche, wenn jetzt uns Mutter zum Abtrocknen rief, dann kamen wir immer! Vater liebte die Fremdsprachen. Er wußte, das die Verständigung der Menschen nur durch Erlernung der fremden Sprache und die Kenntnis ihrer Eigenarten möglich war. Deshalb hielt er sich eine große Anzahl von Zeitschriften. Westermanns Monatshefte, Kosmos, Gesundbrunnen, Leipziger Illustrierte, die Woche, Mühlhäuser Zeitung und Anzeiger, Leipziger Neuste, Fachzeitschriften aller Art, um die verschiedenen Richtungen kennen zu lernen, dazu Heimatblätter, die sich um bodenständige Kultur bemühten. Er selbst aber war Mitarbeiter der Mühlhäuser Geschichtsblätter und hat unendlich viel Mühe und Zeit auf seine Archivarische Arbeit verwendet. Aber davon später! Noch sind wir in der wahrscheinlichen Friedenszeit vor 1914! Noch geht der Vater jeden Morgen zum Büro. Mittags dauert es manchmal sehr lange, bis er zum Essen kommt. Oft schickt uns die Mutter hinaus, zu sehen, ob de Vater nicht endlich heimkommt. Auch wir haben Hunger, aber ohne den Vater das Essen anzufangen, das erscheint uns unmöglich, ja, es kommt uns nicht einmal in den Sinn. Und so laufen wir, Trudchen und ich, hinaus auf den Lindenbühl, wo die Jahrhundertalten Linden vor der Haustüre stehen und die etwa 30jährigen Linden die Anlagen der Stadtmauer begrenzen. Wir laufen hinaus und sehen den Rasen in Frau Fröbes Vorgarten leuchten, bei Weimars ist das eiserne Vorgartengitter, rundgeschmiedete Bänder mit allerlei Verzierungen daran, dichter als Frau Fröbes gerade Eisenstäbe, wir sehen nur ungenau efeuumwachsen eine Rabatte, aber dann kommt der schöne Garten von Bonn! Nirgends gibt es solch einen saftigen, dunkelgrünen Rasen, der immer wieder von einem Gärtner gesprengt und mit einer Rasenmäh-Maschine gemäht wird. Nirgends gibt es solche Blautannen, solche üppigen Beete von Rosen und Hortensien! Das schwere, eiserne Gitter läßt uns leicht durch die Stäbe schauen, aber wenn der Dackel im Garten ist, ziehen wir uns doch in respektvolle Entfernung zurück, denn wir kennen noch nicht den Spruch: Hunde, die viel bellen, beißen nicht. Die rote Sandsteinvilla mit dem steinernen Gitter, das den Garten hinter dem Gebäude abgrenzt, aus dem riesige Buchen und verschieden-farbige Laubbäume, die wir nicht kennen, ihre Wipfel herüberrecken, ist uns ein nie versiegender Born verschiedenster, farbprächtiger Träume. Beim Zahnarzt Völker gehen wir schnell vorbei, es könnte sein, daß der schwarze Schäferhund "Harras" zufällig frei herumläuft. Aber bei der Blumenhalle Flora- der Gärtnerei Burckhardt, wo wir unsere Brunnenfest-Kränzchen machen lassen, schauen wir schnell hinein, ob wieder neue, schöne Blumen drinstehen. Nun noch der Vorgarten von Appee` , dann liegt auf der anderen Seite der Schulhof des städtischen Gymnasiums in der hellen Mittagssonne. Wir schauen hinüber und den Lindenbühl weiter entlang, ach, da kommt er ja der Vater!! Wir laufen auf ihn zu und begrüßen ihn artig mit Knicks und Händchengeben. Vater streicht uns die Haare hinter die Ohren, er ist müde und abgespannt. "Warum kommst du so spät?" "Ja, Kinderchen da war noch viel zu tun!"
Wir hüpfen und springen um ihn herum, fassen seine gute Hand, die so unglaublich
weiche Haut hat, schmiegen wohl unser heißes Gesichtchen hinein und sagen: "Aber jetzt bist du da!" Wir laufen voraus und verkünden mit großem Geschrei: "Der Vater kommt!" Eilig wird das Essen aufgetragen, Vater und Mutter setzen sich auf das Sofa, Luise links von der Mutter an der Schmalseite des Tisches mit dem Rücken zum Fenster, dann Mutter gegenüber Grete, Heinrich, dann ich dem Vater gegenüber, und ihm zur Rechten an der Schmalseite Trudchen, das Nesthäkchen. Die Kleinen binden sich das Lätzchen um, Vater hilft dabei, die braunen Haarsträhnen aus dem Bändergewirr herauszuhalten, die Großen ziehen aus ihren silbernen Serviettenringen, den Patengeschenken, ihre Mundtücher, und dann betet der Vater das " Komm, Herr Jesus", ihm folgen die Kinder, jedes mit einem eigenen Gebetchen. Vater segne diese Speise, uns zur Kraft und Dir zum Preise, war und blieb mein Gebet, während Trudchen den Abschluß gab mit dem kurzen Vers: Gott sei Dank für Speis und Trank. Dann reichten wir uns alle die Hände und sagten: " Gesegnete Mahlzeit." Dann tauchten wir den Löffel in die Suppe. Vater aß langsam und mit Bedacht. Hatte Mutter Knochenbrühe zur Suppe verwendet, dann blieb es nicht aus, daß Vater sagte: " Vorsicht, Kinderchen, da sind Knöchelchen in der Suppe!" Sehr gern aßen wir Hafermehlsuppe mit Korinthen. Vater zeigte uns, wie man durch leichtes Schräghalten auch den letzten Rest der Suppe auslöffeln konnte. Trudchen bemühte sich eifrig. Sie rief strahlend: " Vati, guck, Vati, guck !" Leider schaute der Vater nicht gleich hin, als er es endlich tat, war schon die Hälfte der Suppe auf Trudchens Lätzchen. " Ja, Vati, guck !" Aber das war kein Grund zum Schimpfen. Ein neues Lätzchen wurde umgebunden, der Schaden schnell behoben, aber das geflügelte blieb! Sehr gerne aß Vater Heringskartoffeln, ein ebenso billiges wie bekömmliches und nahrhaftes Gericht. Nur schätzte er nicht die Gräten darin, die sich nie ganz vermeiden ließen. Und weil immer viel zu erzählen hatte, dauerte es sehr lange, bis er, aufgehalten durch das sorgfältige Aussuchen der Gräten, seinen Teller leergegessen hatte. Mehr als einmal mußte Mutter mahnen: " Väterchen, iß doch! Dein Essen wird doch ganz kalt!" Schließlich hatte er das letzte Krümchen vom Teller geputzt, aber rings am Rand waren säuberlich aufgereiht die feinsten Gräten, die wir in der Eile längst verschluckt hätten. War es Mittwoch oder Sonntag, dann blieben wir gern etwas länger nach dem Essen sitzen. Je nach Jahreszeit gab es wohl noch einen Apfel, den Vater mit großem Geschick zu teilen wußte, daß jedes Mal die Spelzen offen an die Schnittfläche kamen. So hatte Vater kaum Abfall, obwohl er jeden Apfel schälte- allerdings erstaunlich dünn. Wir lernten diese Kunst des Apelschälens und Teilens nie in dieser Vollkommenheit, denn wir aßen unsere Äpfel mit Stumpf und Stiel und die Schalen von Vaters noch dazu. Gab es Nüsse, dann war es unsere Aufgabe, mit unseren kleinen Fingerchen für Vater die frischen Häute abzuziehen. Wir bemühten uns um die Wette, die schönsten und größten Stücke ihm hinzulegen, bis er wohl sagte:" Es ist gut, ich hab zur Genüge, eßt ihr man!" Aber lange kaute er noch an seinem winzigen Stückchen, wenn wir mit unserem Heißhunger die Hälfte ungekaut heruntergeschluckt hatten. "Vater, erzähl uns doch was von Karlchen!" Das war nach solch gemütlichem Essen oft unsere Bitte. Und Vater wußte immer etwas Neues. Aus seiner Kinderzeit, von den kleinen Brüdern Karlchen und Willi, von der strengen Tante Emilie, von Onkel Paul und Tante Hede, genannt Dittchen, von der Hosen-Nähergasse in Danzig, seiner Heimatstadt, vom Dom, wo Tante Ludchen einen Laden hatte mit einer Heringstonne. Von Baptisten und dem Großvater, der so schön malen konnte und sich mit seiner großen Kinderschar mühsam durchbeißen mußte. " Es ist wer im Laden!" hörten wir ihn beim Klingeln sagen. Und von der Großmutter, die so gebefreudig und opferbereit war. Aber auch von allem menschlichen Geschehen, Werden und Wachsen wußte uns Vater in solchen Stunden zu erzählen. Es kam vor, daß Mutter plötzlich ausrief: " Aber Kinderchen, wir müssen ja an unsere Arbeit, es ja schon höchste Zeit zum Kaffeetrinken!" Das war aber höchstens in den Ferien möglich. Aber wir konnten Raum und Zeit vergessen, wenn Vater erzählte. Er wußte alles so lebendig zu schildern, tausend Stimmen standen ihm zur Verfügung, die verschiedensten Personen täuschend nachzumachen, daß wir vor Lachen bald vom Stuhle fielen. Manchmal faltete er auch sein Mundtuch zu einem Mäuschen zusammen, das saß ihm dann plötzlich auf der Schulter, sprang Mutter auf den Schoß oder kroch in seinen Ärmel. Unerschöpflich war Vater im Erfinden solcher Späße. Aber einmal war doch Schluß. Vater sprach das Danket dem Herrn, und wir Kinder gingen zuerst zu ihm, gesegnete Mahlzeit wünschend mit Knicks, Kuß und Händedruck ,, dann zur Mutter ebenso. Erst dann konnte der Tisch abgeräumt werden. Natürlich gab es in strenger Arbeitszeit auch einen wortkargen Vater, der Kopfschmerzen hatte und sich gleich nach dem Essen auf's Sofa legen mußte zum Mittagsschlaf. Manchmal hatte er es gern, wenn wir ihm dann durch die schwarzen, aufrecht stehenden Haare mit seinem aus der Westentasche gegrabbelten Kämmchen ganz zart kämmten. Er tat dann so, als ob er schlief, bis er plötzlich zu unserem größten Vergnügen nach der Hand schnappte. Aber es gab auch Tage, an denen er sagte: "Kinderchen, laßt mich in Ruhe, aber weckt mich um halb drei!" Dann sorgten wir dafür, daß der Kaffee genau pünktlich fertig war, gossen wohl schon die Tasse ein und taten zwei Stückchen Zucker hinein. Dann weckten wir Vater mit einem vorsichtigen Küßchen, es tat uns ja selber leid, daß wir den müden Vater wecken mußten. Er trank nun seinen Kaffee, während wir ihm in die Straßenschuhe halfen, denn Vater zog sich stets die Schuhe aus, wenn er heimkam . Es machte uns meistens großen Spaß, Vaters Schuhe zuzuschnüren, wir waren ja noch so klein und hatten an vielem Spaß, was große Kinder nicht mehr tun mögen. So war es für uns ein Vergnügen, Vater die Füße zu waschen, wenn er abends nach Hause kam. Wir kitzelten ihn unter der Fußsohle, und ich freute mich diebisch, wenn er dann sagte: " Aber Leni!" ; und mit dem Fuß zusammenzuckte. Wir zogen ihm manchmal um die Wette die kunstvoll zurechtgezogenen frischen Strümpfe an, und beeilten uns, als erste mit dem Anziehen der Hausschuhe fertig zu werden. Vater hatte zu Weihnachten eine Holzwanne zum Füße waschen bekommen. Auch wir haben manchmal unsere kalten Füße in ihr aufgewärmt. Vater las meistens während der Fußwaschung die Zeitung. Wenn alles vorüber war, der Fußboden aufgewischt, das Handtuch am Ofen aufgehängt war, dann deckten wir den Abendbrottisch. Meistens gab es für uns Kinder Pfefferminztee, für die Erwachsenen schwarzen Tee, für Vater mit einem Schuß Rum. Gar zu gerne aß Vater Bratkartoffeln mit einem Zwiebelchen daran. Es gab auch häufig eingelegten Hering und Pellkartoffeln. Die Käseglocke mit Schweizerkäse durfte aber nie fehlen. Nach dem Abendessen holte Vater manchmal seine Geige hervor und spielte seinen Telemann. Manchmal spielte er Schach mit einem Nachbarn. Und wenn Gäste da waren, sang er auch zur Gitarre lustige Lieder: Hab mein Wage vollgelade; Alleweil ein wenig lustig alleweil in wenig durstig; Es wollt ein Schneider wandern des Montags in der Früh; Als ich ein Junggeselle war und so manches andere Volkslied. Dazu spielte er die Gitarre, die mit bunten Bändern reichlich geschmückt war. Sehr oft aber setzte er sich ans Klavier und spielte, was ihm einfiel, ohne Noten, ganz nach Stimmung. Manchmal tanzten wir dazu, hüpften und sprangen durch die Stube, oder schritten feierlich einher, wie es der Rhythmus ergab. Es gab aber auch Tage, an denen er noch dienstlich zu tun hatte, etwa die Kosten-Abrechnung nach dem Außendienst. Nun, wir Kleinen gingen sowieso ins Bett, wir merkten nicht viel davon. Wir sollten längs schlafen, wenn Vater und Mutter um 10 Uhr ins Bett gingen. Ich wollte gar zu gern ausprobieren was für ein Gefühl es wäre, wenn ich des Morgens mit dem Kopf am Fußende des Bettes aufwachte. Aber immer wachte ich auf mit dem Kopf am Kopfende, sooft ich mich auch umgekehrt ins Bett legte. Erst Jahre später stellte es sich heraus, daß Vater mich jede Nacht wieder in die richtige Lage gebracht hatte, leider! Aber so war er: Er ging jeden Abend von Bett zu Bett und schaute nach, ob alle Kinder richtig im Bett lagen. Ein jedes Kind wurde noch einmal richtig eingepackt, wenn es sich irgendwie losgestrampelt hatte. Wir aber merkten fast nie etwas davon. Die goldene, alte Zeit kannte noch nicht elektrisch Licht. Wir hatten noch Petroleumlampen, im großen Schlafzimmer, wo Heinrich, ich und Trudchen mit den Eltern zusammen schliefen, war überhaupt kein Licht. Jeden Abend ging Vater mit einem Kerzenleuchter in der Hand die Treppe zum Schlafzimmer hinauf. Im Flur und in der Wohnstube, im Guten Zimmer und in Vaters Arbeitszimmer gab es vornehme Gaslampen. Aber im Kinderzimmer, in dem Luise und Grete schliefen, hing eine grausig verschnörkelte Petroleumhängelampe mit einem zackigen Griff, der einem schmerzhafte Wunden am Kopf beibringen konnte, wenn man zu schnell und unvorsichtig den Kopf hochhob. Diese Lampe mußte auf Klein gestellt werden, wenn wir das Zimmer verließen. Oft genug fragte Vater im Laufe des Abends:
" Habt ihr auch die Lampe klein gestellt?" Dann mußten wir schnell hinauflaufen, wenn wir nicht mit einem sicheren " Ja" antworten konnten. In der ersten Zeit war das Kinderzimmer noch geteilt durch eine Tapetenwand, sodaß ein kleiner Raum als Bad abgetrennt war. Dort wurde sonnabends die Badewanne aufgestellt, die Schaukelbadewanne! Es war ein herrliches Vergnügen, in der Wanne bis hoch in die Dachrundung zu kriechen, sodaß das Fußende hoch in die Luft ragte. Dann ließ man sich schnell herabrutschen und bekam das Wasser im Schwung auf den Rücken und im nächsten Augenblick ins Gesicht, weil es vom überdeckten Fußende zurück-geworfen wurde. Natürlich schwappte das Wasser oft über, und das Dienstmädchen hatte viel aufzuwischen. Einmal saß Mutter in der Badewanne, da löste sich der Verschluß, der außen aufgeschraubt war, und das Wasser ergoß sich in die Stube. Mutter konnte nicht schnell genug heraussteigen, sie fand den Verschluß nicht, das Wasser floß schon durch die Tapetenwand. Es gab einen großen Aufruhr, endlich wurde die Wanne hochgestellt, der Verschluß gefunden, angebracht und aufgewischt. Aber was war unten im Wohnzimmer geschehen? Ahnungslos saß dort jemand auf dem Sofa, als plötzlich Kalk mit Wasser von der Zimmerdecke herniederbrach und die Menschen in Entsetzen und Schrecken auffahren ließ. Vater tobte. Solch ein Unverstand! " Du hättest doch gleich den großen Zeh in das Loch stecken sollen!" " Ja, wie hätte ich denn aus der Wanne kommen können?" Es war eine ungemütliche Zeit, bis der Schaden wieder behoben war. Noch schrecklicher aber war die Geschichte mit der Wäscheleine. Es war mitten im Winter, jedenfalls war es dauernd schlechtes Wetter, sodaß die Wäsche nicht trocken werden wollte und konnte. Da band Mutter eine Wäscheleine an das Fensterkreuz, führte sie durch das Zimmer und band das andere Ende an den gedrechselten Knopf vom Buffettaufsatz. Dann hängt sie fröhlich die Wäsche im schön geheizten Zimmer auf. Wie sie sich gerade von der Leine wegwendet, um ein neues Stück zu holen, senkt sich der Aufsatz, von der Schwere der nassen Wäsche gezogen nach vorne und mit einem ohrenbetäubenden Krach stürzt das Geschirr, die Vasen alle die kostbaren Weingläser auf den Fußboden. Bleich und zu Tode erschrocken sieht Mutter die Scherben. Die uralten Tassen, kostbare Erinnerungsstücke, sind zerschlagen. Wir Kinder haben nie erfahren, was in jener Nacht geschehen ist nach diesem Unfall. Mutter wurde noch Wochen danach blaß, wenn man davon sprach. Darum vermieden wir jegliche Erinnerung an jenen Abend, aber mir ist er unvergeßlich geblieben, eben weil er meiner Mutter ein unauslöschliches Grauen verursacht hatte. Die Herbst- und Winterabende hatten ihren ganz besonderen Zauber. Vater besaß ein Fernrohr! An sternklaren Abenden stellte er wohl sein Fernrohr im Garten auf. Dann spähte er lange hindurch, schraubte, drehte es hin und her und rief dann mit geheimnisvoller, freudiger Stimme uns hinaus. Wir durften durch das geheimnisvolle Glas hindurchschauen und konnten ferne Welten beobachten. Die Venus mit ihren Monden, Saturnringe und Marskanäle. Vater erzählte uns Wunderdinge von der Milchstraße, von Sternnebeln und Kometen. Er photographierte und entwickelte seine Bilder selber, ließ die Sonne auf die Negative scheinen, zeigte uns, wie sich allmählich das Papier dunkel färbte und ließ uns zusehen beim Mischen und Auflösen der Chemikalien. Er besaß einen Chemikalienschrank mit vielen kleinen Fächern. Flaschen und Gläsern mit Salzen, Flüssigkeiten und anderen unbekannten Elementen reihten sich hier nebeneinander. Es gab eine Spirituslampe und einen roten Cylinder. Es kam vor, daß Vater mitten im Sommer im dunklen, tiefen Keller saß, eine rote Lampe bei sich hatte und uns eindringlich verbot, das Brett, das er vor das Kellerfenster gestellt hatte, wegzunehmen. Und dann tauchten auf den sorfältig verwahrten Papieren, die auf Holzrähmchen gespannt wurden, Gesichter der Kinder auf, da war der erste Schritt von Trudchen festgehalten, da standen und saßen wir vor der Haustüre im Garten, da schaukelte sich Heinrich im Schrebergarten auf den Stadtberg! Was konnte Vater doch alles! Er war tagelang auf dem Boden und ließ keinen hinauf. Er hatte sich dort ein Zimmer als Werkstatt eingerichtet mit Hobelbank und Schraubstock vielen, vielen anderen Arbeitsgeräten. Wochenlang mußten wir ihn von dort oben zum Essen rufen. Und dann lüftete sich endlich der Schleier des Geheimnisses: Vater hatte Mutter einen Speisekammerschrank gebaut! Wunderbar weiß gestrichen, mit einem fliegengeschützten Fach, blaues Drahtgeflecht spannte sich hinter zierlich abgeteilten Quadraten, die mit bunten Farben umrahmt waren. Die Gazetüre konnte durch Riegel abgelöst werden, damit man die Fächer gut reinigen konnte. Es war an alles gedacht! Eine wahre Wunderwelt tat sich für uns auf, wenn Vater im Februar zu unseren Geburtstagen seinen Projektionsapparat, den er sich selber aus Schwarzblech gebastelt hatte, aufstellte und uns die Märchen von Hänsel und Gretel, dem kleinen Däumling und den Drachen-Prinzessinnen vorführte. Oder es stand der Jörgel im Keller und naschte! Aber Gott sieht alles! Unsere vielen Geburtstagsgäste konnten sich nicht losreißen. Vater las die Märchen dazu vor und erzählte zu den Bildern, die er selbst aufgenommen hatte, erklärende Berichte. Gar manches Mal kamen, Frau Jetzinger oder Frau Hoffmann, um die Kinder heimzuholen, und dann blieben die Mütter selber noch da und hörten und sahen, was sie sonst nicht zu sehen bekamen, denn es gab da auch Bilder von Mondkratern und Saturnringen, von Blitzen und lebendigen Wassertropfen. Und etwas ganz besonders Schönes, bunte Farben, die sich bewegten! Dazu hatte der Vater aus Seidenpapier aller Farben einen Cylinder geklebt, den er um seine Projektionslampe kreisen ließ. Da ergab sich dann das Wunder, daß bei ganz Schnellem Drehen alle Farben verschwanden und nur eine weiße Fläche zu sehen war. Solch ein Zauberer war unser Vater! Ein Wunderwerk von Fleiß und Geschicklichkeit war auch das Puppentheater, das er in mühseliger Arbeit für uns bastelte. Wir konnten damit Dornröschen und Schneewittchen spielen. Es gab ein Faustzimmer, ein Waldhaus mit Balkon, auf dem sogar eine Dame in blauem Kleide mit wehendem Schleier stehen konnte. Es gab Rosenhecken und einen Koch, der eine Ohrfeige austeilte. Vor allem aber gab es ein wunderbares Glockengeläute, das man mit Korkhämmern selber gestalten konnte. Hintergrund. Decken- und Seitenkulissen waren einzuhängen und einzuklemmen. Es gab sogar zwei Vorhänge! Bei uns gab es nie Langeweile! Und wieviel Bücher hatte Vater! Angefangen mit den Hunderten von Reclambändchen bis zu den riesigen Weltgeschichten und den Lexikonbänden der preußischen Geschichte, die ich mehr als meine Schulbücher studierte. Kunstmappen und eine Fülle von Kosmosbänden und schöner Literatur. Es gab das alte und neue Testament in Bildern und in verschiedenen Übersetzungen. Eine Übersetzung von Weizsäcker und einige in englisch, französisch, ja, Hebräisch. Fritz Reuter fehlte nicht und gab Anlaß zu den schönen Reuterabenden bei uns, an denen Vater oder Mutter im Kreise lieber Bekannter oder Nachbarn: "Ut mine Stromtid" oder "Läuschen und Rimel " vorlasen oder "Die Reise nach Konstantinopel" oder "Ut mine Festungstid " Welch eine schöne, reiche Zeit!
Erzählt und aufgeschrieben von Helene Böhme, geb. Groth
"Großvater war ja noch etliche Jahre rüstig und hat viele Jahre in Treffurt Vermessungsarbeiten geleistet." (H.Neeße)
Er ist am 17.4. 1972 kurz vor seinem 100. Geburtstag (19.6.1972) gestorben.
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